Grundsatzurteil gefällt
Urteil zur Arbeitszeiterfassung: Das könnte sich für Zehntausende Arbeitnehmer jetzt ändern
Stand 14.09.22 - 12:06 Uhr
0
In die Diskussion um eine Pflicht zur Arbeitszeiterfassung platzt das Bundesarbeitsgericht mit einem Grundsatzurteil. Es kann nach Einschätzung von Fachleuten weitreichende Auswirkungen auf die Arbeitswelt Zehntausender haben.

Das Thema Arbeitszeiterfassung wird derzeit in der deutschen Wirtschaft und Verwaltung viel diskutiert.
Die Stechuhr kann in Deutschland zurückkehren
Einen Paukenschlag nennt der Bonner Arbeitsrechtsprofessor Gregor Thüsing das Grundsatzurteil des Bundesarbeitsgerichts in Erfurt zur generellen Pflicht, Arbeitszeit zu erfassen.
- Anzeige -Die Entscheidung der höchsten deutschen Arbeitsrichter von Dienstag in Erfurt könnte eine Art digitale Stechuhr in Unternehmen, Büros und Verwaltungen zurückbringen. In den vergangenen Jahren gab es eher den Trend zu Vertrauensarbeitszeitmodellen, mobilem Arbeiten und Homeoffice mit wenig Kontrolle und Papierkram. Verhandelt wurde ein Fall aus Nordrhein-Westfalen.
Grundsatzurteil gefällt
Während die Ampel-Regierung, Wirtschaftsvertreter und Arbeitsrechtler noch über eine Änderung des deutschen Arbeitszeitgesetzes diskutieren, ist jetzt höchstrichterlich entschieden: Es besteht in Deutschland eine Pflicht zur Arbeitszeiterfassung (1ABR 22/21). Die Präsidentin des Bundesarbeitsgerichts, Inken Gallner, begründete die Pflicht von Arbeitgebern zur systematischen Erfassung der Arbeitszeiten ihrer Beschäftigten mit der Auslegung des deutschen Arbeitsschutzgesetzes nach dem sogenannten Stechuhr-Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH).
- Anzeige -Die Argumentation der Richter
«Wenn man das deutsche Arbeitsschutzgesetz mit der Maßgabe des Europäischen Gerichtshofs auslegt, dann besteht bereits eine Pflicht zur Arbeitszeiterfassung», sagte Gallner in der Verhandlung. Nach dem deutschen Arbeitszeitgesetz müssen bisher nur Überstunden und Sonntagsarbeit dokumentiert werden, nicht die gesamte Arbeitszeit. Das Bundesarbeitsgericht zog aber nicht das Arbeitszeit-, sondern das Arbeitsschutzgesetz heran. Nach Paragraf 3 sind Arbeitgeber danach schon heute verpflichtet, «ein System einzuführen, mit dem die von den Arbeitnehmern geleistete Arbeitszeit erfasst werden kann». Gallner sagte in der Verhandlung: «Zeiterfassung ist auch Schutz vor Fremdausbeutung und Selbstausbeutung.»
Was die Entscheidung brisant macht
Mit seinem Grundsatzurteil prescht das Bundesarbeitsgericht in der Debatte um die Änderung des deutschen Arbeitszeitgesetzes vor. Die Bundesregierung arbeitet daran, Vorgaben des Europäischen Gerichtshofs aus dessen Stechuhr-Urteil von 2019 in deutsches Recht umzusetzen. Danach sind die EU-Länder zur Einführung einer objektiven, verlässlichen und zugänglichen Arbeitszeiterfassung verpflichtet. Die soll nach der Intension des EuGH helfen, ausufernde Arbeitszeiten einzudämmen und Ruhezeiten einzuhalten. Die Kehrseite von Vertrauensarbeit seien teils unbezahlte Überstunden, argumentieren Gewerkschafter.
- Anzeige -Was das Urteil bewirken kann
Fachleute rechnen damit, dass das BAG-Grundsatzurteil Auswirkungen auf die bisher in Wirtschaft und Verwaltung häufig praktizierten Vertrauensarbeitszeitmodelle bis hin zu mobiler Arbeit und Homeoffice haben wird, weil damit mehr Kontrolle besteht. «Die Frage ist, ob Regelungen zu Vertrauensarbeitszeit so wie bisher noch möglich sind», so Arbeitsrechtler Thüsing. Andere Fachleute sind da optimistischer. Gerichtspräsidentin Gallner sagte dazu, nach dem EuGH-Urteil habe Deutschland Gestaltungsspielraum «über das Wie, nicht das Ob der Arbeitszeiterfassung». Unternehmen müssten nun Lösungen zur «umfassenden Arbeitszeiterfassung einrichten», glaubt der Fachanwalt Michael Kalbfus von der Kanzlei Noerr in München.
Gesetzesänderung geplant
Im Koalitionsvertrag der Ampel-Koalition heißt es: «Im Dialog mit den Sozialpartnern prüfen wir, welchen Anpassungsbedarf wir angesichts der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zum Arbeitszeitrecht sehen. Dabei müssen flexible Arbeitszeitmodelle (z.B. Vertrauensarbeitszeit) weiterhin möglich sein.»
Der Fall, der verhandelt wurde
Eigentlich ging es bei dem Fall, der verhandelt wurde, nur um die Frage, ob Betriebsräte auf die Einführung eines elektronischen Arbeitszeiterfassungssystems pochen können – also ein Initiativrecht haben. Der Betriebsrat scheiterte mit seiner Forderung, bei der es ihm um die bessere Überstundendokumention ging. Eine betriebliche Mitbestimmung oder ein Initiativrecht sei ausgeschlossen, wenn es bereits eine gesetzliche Verpflichtung zur Arbeitszeiterfassung gibt, begründete das Bundesarbeitsgericht seine Ablehnung. Dass der Rechtsstreit zu einem Grundsatzurteil führte, überraschte sichtlich die Anwälte des Betriebsrats und des Arbeitgebers, der Sozial- und Gesundheitseinrichtungen betreibt.
Bleib immer bestens informiert!
Mit unserem kostenlosen 95.5 Charivari-Newsletter verpasst du keine Highlights mehr. Von Top-Konzerten über exklusive Gewinnspiele bis hin zu Einblicken in Larissa Lannert live - wir liefern dir wöchentlich alles Wichtige direkt in dein Postfach.
Mehr Beiträge und Themen
Sommer, Sonne, Streit - zwischen den Bundesländern gibt es mal wieder Zoff über die Ferientermine. Es ist nicht das erste Mal. Was steckt dahinter?
Erlebe Alpenblick und Luxus pur: Omaze verlost eine 2,8-Millionen-Euro-Villa südlich von München. Was es mit der Aktion auf sich hat.
Die Fußball-EM der Frauen findet dieses Jahr im Juli statt - Hier findest du alle Informationen zum Spielplan des DFB-Teams.
Alfons Schuhbeck steht im Gerichtssaal des Landgericht München I vor seinem Platz an der Anklagebank. Gegen Schuhbeck wird unter anderem wegen des Vorwurfs des Subventionsbetrugs verhandelt.
Die Erdbeersaison ist schon fast vorbei, aber dafür kannst du in und um München andere Obstsorten frisch ernten und genießen. Hier hast du einen Überblick, wo du frische Früchte in München selber pflücken kannst.
Die Deutsche Steuer-Gewerkschaft will die Steuererklärung für Arbeitnehmer abschaffen – stattdessen soll ein automatisiertes System kommen. Was dahintersteckt.
Fliegergranatenfund in Starnberg: In der Possenhofener Straße wurde eine Weltkriegsgranate entdeckt. Sie wurde sicher abtransportiert.
Die ersten Spieltage der neuen Saison sind terminiert. Der FC Bayern ist häufiger an Abenden im Einsatz als üblicherweise.
Ein neuer KI-Stift kann Aufgaben scannen. Auf TikTok posten Schüler, wie sie mit dem neuen Stift bei Prüfungen spicken.
Edeka und Netto rufen mehrere Mineralwasser-Sorten zurück. Bakterien können Erbrechen und Durchfall verursachen. Diese Chargen sind betroffen!
DESK
Überall in München wird aktuell überall gebuddelt. Hier findest du aktuelle Informationen über Baustellen in München.
Der weltberühmte Extremsportler Felix Baumgartner ist bei einem Unfall ums Leben gekommen.
Kurzfristig musste die Bahn Ende Juni eine Regionalstrecke in Oberbayern sperren - Pendler, Schüler und Ausflügler waren betroffen. Jetzt rollen die Züge wieder.
Stromausfall in Trudering betraf über 5700 Haushalte. Stadtwerke München arbeiteten an einer schnellen Lösung.
Das belgische Tomorrowland zählt zu den größten Elektrofestivals der Welt. Kurz vor dem Start brennt es plötzlich auf dem Festivalgelände.
Entdecke, warum Milka wegen Shrinkflation und versteckter Preiserhöhungen den "Goldenen Windbeutel 2025" erhielt.
Vom online Buchhändler zum globalen Giganten. Welche skurrilen Produkte Amazon anbietet, erfährst du hier.