Essen
Bye-bye, Beilage? Warum Deutschland heute anders isst
Stand 01.07.24 - 11:25 Uhr
In angesagten Restaurants kosten «Sides» jetzt oft extra. Die klassische deutsche Sättigungsbeilage scheint auszusterben. Deutschland erlebt beim Essen ohnehin einen enormen Kulturwandel. Wieso?

©Gregor Tholl/dpa
Isst Deutschland bald ohne Beilage?
Berlin/Regensburg (dpa) – Es war einmal in Deutschland: Schnitzel, Spargel, Bratkartoffeln. Oder: Kasseler, Grünkohl, Salzkartoffeln. Soll heißen: Unter einer ordentlichen typisch deutschen warmen Mahlzeit wurde meist ein Drei-Komponenten-Gericht verstanden. Sprich: Fleisch/Fisch, Gemüsebeilage, (kohlenhydratreiche) Sättigungsbeilage. Stirbt die letztere jetzt langsam aus? Heißt es Abschied nehmen? Bye-bye, Beilage?
- Anzeige -Sicher ist: Die Esskultur – und das Verhalten beim (offensichtlich immer teurer werdenden) Essengehen – ist im Wandel. Und zwar gleich mehrfach. Eine repräsentative Civey-Umfrage offenbarte neulich, dass knapp die Hälfte der Erwachsenen in Deutschland seltener auswärts isst – «seit der Rückerhöhung der Mehrwertsteuer auf 19 Prozent in der Gastronomie».
Und wer 2024 in angesagten Lokalen die Speisekarte liest, sieht öfter, dass es normaler wird, wenn etwa zum Rinderfilet, wie in teureren Restaurants in Amerika, jede Beilage extra kostet – oft tituliert als «Sides», darunter dann oft die Kohlenhydrate wie Fritten oder getrüffeltes Kartoffelpüree (oder Gemüse wie gegrillter grüner Spargel). Was ist kulturell passiert, wenn die früher selbstverständliche Beilage nur noch Option und kein «Muss» ist?
Natürlich essen immer noch Millionen Menschen Gerichte wie Roulade mit Rotkohl und Kloß. Nach wie vor servieren viele Gaststätten und Wirtshäuser Haxen und Wiener Schnitzel im traditionellen Setting. In Kantinen, Mensen, Krankenhäusern sind oft sogar noch Abteilteller aus Porzellan mit 3-fach-Unterteilung im Einsatz. Doch Jüngere haben oft längst andere Vorlieben. Im modernen Ernährungsalltag sind All-in-one-Essen aus einem tiefen statt flachen Teller angesagt. Man denke an Trends wie Bowls, arabische Küche, Asia-Food. Und Pizza, Pasta, Burger, Döner sind eh schon anders als Eisbein mit Sauerkraut.
Klassisches Komponentengericht so out wie Karstadt?
«Das lange Zeit in Deutschland übliche Drei-Komponenten-Gericht wird heute als total altmodisch wahrgenommen und von vielen als Bevormundung verstanden», sagt der Kulturwissenschaftler Gunther Hirschfelder von der Uni Regensburg. «Festgefügte Komponentengerichte sind ungefähr so out wie die kriselnden Warenhäuser à la Karstadt.» Menschen wollten heute stets eine große Auswahl haben und erleben. Und so, wie sie im Warenhaus enttäuscht seien, wenn es nur zwei Regale mit Jeans gebe statt vieler Dutzend Modelle, so könne sich Enttäuschung breit machen, wenn die Speisekarte zu viel festlege.
«Die jüngere Generation findet es oft befremdlich, dass jeder am Tisch das Gleiche bekommen soll. Essen ist zum Ausdruck der eigenen Persönlichkeit geworden. Wir haben pseudo-individualisierte Ernährungsstile», sagt Hirschfelder. «Meist ist es eine Scheinwahl. Am Ende ist es völlig egal, ob ich Reis oder Nudeln nehme.» In den 80ern hätte eine Debatte über Beilagenvorlieben noch als bourgeois und versnobt gegolten, meint der Buch-Autor («Europäische Esskultur: Eine Geschichte der Ernährung von der Steinzeit bis heute»).
«Wenn Sie in den 80ern in ein bürgerliches Lokal gegangen sind oder zum Griechen, dann haben Sie nicht die ganze Zeit gesagt, was Sie weglassen wollen oder extra haben wollen oder was Sie nicht vertragen. Außerdem gab es noch die gesellschaftliche Strömung, die Kindern und Jugendlichen beibrachte „Du isst, was auf den Tisch kommt“.» Ein Restaurantbesuch sei per se toll zu finden gewesen und Kinder hatten Schnitzel mit Pommes zu nehmen – und gut war. «Das würde ja heute als totale Zumutung verstanden werden.»
Wenn schon nicht die Welt verändern, dann wenigstens mein Essen
Um Deutschlands frühere Esskultur zu erklären, holt Hirschfelder etwas aus. Nach dem beschämenden Weltkrieg habe es eine «nivellierte Mittelstandsgesellschaft» gegeben, wie es einst der Soziologe Helmut Schelsky charakterisierte. «Man saß gesellschaftlich in einem Boot, symbolisch auch an einem Tisch, man pflegte eine Ernährung unter den ökonomischen Möglichkeiten, fiel lieber nicht mit einem extravaganten Geschmack auf. Und gerade Kartoffeln als Sättigungsbeilage waren symbolisch aufgeladen.»
Wichtiger als das, was auf den Tisch kam, seien alles in allem materielle Konsumgüter gewesen, aber auch Reisen und Wohnen waren bedeutungsvoller als die Nahrungsaufnahme. Das änderte sich erst nach dem Ende der DDR und der alten BRD, sagt Hirschfelder.
In den letzten rund 30 Jahren entfalteten sich in der Wohlstandsgesellschaft nach dem Kalten Krieg neue Weltanschauungen – oft entlang des Leitnarrativs «Ich bin, was ich esse». «In einer globalisierten Welt ist Ernährung eine Komplexitätsreduktion, deshalb nehmen viele sie so wichtig.»
Derzeit sei eine Rückkehr politischer Ideologien zu beobachten, im Alltag dauere aber noch die Überbewertung des Essens an, meint der Kulturwissenschaftler. Es sei nach wie vor wichtig, was man esse und was man nicht esse, es gehe etwa um veganen Lifestyle, Low Carb oder möglichst exotische Kost. «Das Motto scheint zu sein: Wenn ich schon die Welt nicht verändern kann, dann kann ich wenigstens verändern, was auf meinem Teller ist.»
Bleib immer bestens informiert!
Mit unserem kostenlosen 95.5 Charivari-Newsletter verpasst du keine Highlights mehr. Von Top-Konzerten über exklusive Gewinnspiele bis hin zu Einblicken in Larissa Lannert live - wir liefern dir wöchentlich alles Wichtige direkt in dein Postfach.
Mehr Beiträge und Themen
Der München Marathon bringt dieses Wochenende nicht nur sportliche Höchstleistungen, sondern auch umfangreiche Verkehrsänderungen mit sich. Wer mit dem Auto oder dem ÖPNV unterwegs ist, muss mit Sperrungen, Umleitungen und Verzögerungen rechnen – besonders in der Innenstadt, Schwabing, Bogenhausen und rund um den Englischen Garten.
Elektrokleinstfahrzeuge-Verordnung: Das hört sich technisch an. Dahinter verbergen sich Regeln für E-Scooter, und dafür sollen jetzt einige Änderungen kommen.
Veggie-«Burger» bald verboten? Was das EU-Parlament plant und warum Anbieter wie Rügenwalder Mühle und Lidl Alarm schlagen.
Ein Notfall am frühen Morgen: Die Insassen eines Linienbusses werden vom Fahrer in Sicherheit gebracht. Nur kurz darauf brennt das Fahrzeug.
Bei der Münchner S-Bahn wird wieder gebaut. Hier findest du alle Änderungen, Ausfälle und Alternativen im Überblick.
Wie kann sich Deutschland gegen Drohnen schützen? Das bayerische Kabinett will die Polizei nun schnell mit neuen Befugnissen ausstatten – und mit der nötigen Technik.
Unbemannte Flugobjekte stören wieder den Betrieb am Münchner Flughafen – und sorgen für Flugausfälle, Polizeieinsätze und jede Menge offene Fragen. In unserem großen FAQ erklären wir, warum Drohnen so gefährlich sind, wie sie erkannt werden und welche Technik zu ihrer Abwehr eingesetzt wird.
6,5 Millionen Menschen, doch manche standen vor verschlossenen Toren. Was der Wiesn-Chef zu den Fehlern beim Besucheransturm sagt – und wie Gäste im Gedränge reagierten.
Neuerungen im Oktober 2025: Blitzüberweisungen, digitale Patientenakten, Grenzkontrollen und die Rückkehr zur Winterzeit – was sich jetzt alles ändert, lest ihr hier im Überblick.
Größer, heller – und besonders selten: Der erste Supermond des Jahres ist 2025 im Oktober. Warum das so besonders ist und wann du den Mond am besten beobachten kannst, erfährst du hier.
DESK
Ab Anfang November beginnt der Probebetrieb im neuen Flugsteig von Terminal 1. Gesucht werden Freiwillige, die realistische Reiseszenarien nachspielen. Jetzt online registrieren.
Am 31.12. verwandelt sich die Ludwigstraße in eine riesige Silvester-Partyzone mit Musik, Lichtshow & Streetfood. Jetzt Tickets für Münchens neue Silvestermeile sichern – Vorverkauf startet am 16.10.!
Die Stadt München will sich für die Olympischen Spiele bewerben - doch erst sollen die Bürger darüber entscheiden. Was spricht dafür und was dagegen?
Sichere dir Tickets für The Weeknd live in München im Sommer 2026! Alle Infos zu Pre-Sale, Telekom Prio Tickets & regulärem Vorverkauf findest du hier.
Sichere dir den Münchner Ferienpass 2025/2026 und erlebe ein Jahr voller Spaß und Abenteuer! Mit tollen Ferienangeboten, kostenfreien Schwimmbadbesuchen und gratis MVV-Nutzung in den Sommerferien – perfekt für alle Kinder und Jugendlichen von 6 bis 17 Jahren. Jetzt online oder vor Ort erhältlich!
Es ist wieder soweit, die Pilzsaison ist im vollen Gange. Auch rund um München kannst du schmackhafte Pilze finden. Wo genau und was du dabei beachten musst, erfährst du hier.
Namenssuche fürs neue Bahnhofsviertel: Die Stadt München ruft Bürger zur Beteiligung auf. Jetzt mitmachen und Vorschläge einreichen!